* Exkurs zur Problematik des Taxons „Mygale spinicrus“:
 
Im Jahre 1818 beschrieb der Naturforscher Latreille eine Spinne namens Mygale spinicrus. (Manche Autoren gaben später fälschlicherweise 1819 oder sogar 1828 als Erscheinungsjahr an.)
In den Bibliotheken ist die Arbeit mit einem Erscheinungsjahr 1818 eingeordnet, was die Vermutung nahe legt, daß das oft mit 1819 genannte Erscheinungsjahr unrichtig ist. Mygale spinicrus wurde durch Monsieur Delalande als aus Brasilien stammend berichtet. Diese Herkunftsangabe ist aber so zweideutig formuliert, daß unklar bleibt, ob die Art tatsächlich aus Brasilien stammte, oder Delalande lediglich der Meinung war, dort (in Brasilien) eine ähnliche Spinne gesehen zu haben. Dies lässt sich heute kaum noch klären. Es spricht aber einiges für die Richtigkeit der zuerst genannten Vermutung. Die erste Arbeit, die sich mit der Art nach deren Erstbeschreibung befasste, war die von Walckenaer. Er beschrieb im Jahre 1837 Mygale cubana und berief sich darin auf 11 Männchen und ein weibliches Tier von Kuba. Diese Tiere stammten von De Sagra, dem damaligen Leiter des Botanischen Gartens in Havanna. Jedoch fügte Walckenaer danach noch das Literaturzitat zu Mygale spinicrus an und gab als deren Fundort ‚Neue Welt - Insel Kuba’ - an. Es folgte ein recht langer Kommentar, an dessen Ende er angab, den Namen spinicrus tauschen zu wollen, da er auf einem Fehler beruhe. Es ist anzunehmen, daß er sich auf einen Fehler in der Namensgebung berief. Da es keinen offensichtlichen nomenklatorischen Grund für eine solches Vorgehen gab, können wir davon ausgehen, daß der nachfolgende Autor, nämlich Lucas, sich durchaus im Recht befand, indem er spinicrus als Artnamen wieder einführte. Dessen Arbeit erschien im Jahre 1857, in dem von Ramon De Sagra herausgegebenen Werk „Histoire Physique, Politique et Naturelle de l’Ile de Kuba“. Darin werden dieselben zwölf Exemplare beschrieben, die auch Walckenaer vorgelegen hatten. Im Jahre 1876 erschien eine weitere Arbeit von Lucas, in der wiederum Eurypelma (Mygale) spinicrus aus Haiti erwähnt wurde. In diesem Fall lag jedoch eine Verwechslung mit der dort verbreiteten Art Phormictopus cancerides (Latreille, 1806) vor. Das ergab eine Untersuchung des Materials von Lucas in der Sammlung Paris. Hier ist auch der Ursprung der falschen Behauptung zu suchen, Citharacanthus spinicrus sei von Kuba bis Hispaniola verbreitet. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, daß das Sammlungsetikett von Lucas die Bezeichnung „Eurypelma cubana“ trägt.
Der österreichische Arachnologe Ausserer führte 1871 im ersten Teil seines Werkes „Beiträge zur Kenntnis der Arachniden - Familie der Territelariae“ Eurypelma spinicrus mit der Angabe 1819 als Jahr der Erstbeschreibung auf. Hier liegt wahrscheinlich der Ursprung des oftmals falsch angegeben Datums in der Literatur bis zum heutigem Tag. In Teil II seiner Monographie, bildet Ausserer 1875 das männliche Begattungsorgan ab und führt zum Vergleich mit Eurypelma steindachneri auch einige andere Merkmale an. Die beschriebene Spezies stimmt in allen angegebenen Punkten mit der von Kuba bekannten und heute als spinicrus bezeichneten Art überein. Petrunkevitch stellte die vermeintliche Eurypelma spinicrus schließlich in die Gattung Citharacanthus. Woher seine Erkenntnis stammte, ist nicht mehr mit Sicherheit zu klären. Sicher ist allerdings, daß er hier einem Irrtum erlag. Sicher ist auch, daß es sich bei allen als Eurypelma spinicrus determinierten Arten aus Kuba und Hispaniola um Vertreter der Gattung Phormictopus handelt. Phormictopus ist für Kuba und Hispaniola endemisch, alle anderen Berichte aus Honduras, Venezuela und Brasilien beruhen auf Irrtümern.
Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch die von dem kubanischen Arachnologen Franganillo verwendeten, und sich teilweise sogar widersprechenden Zuordnungen der Art spinicrus, welche die Verwirrung innerhalb dieses Artkomplexes noch vermehrten. Er platzierte die Spezies zunächst in die Gattung Xenesthis, postulierte andererseits aber eine neue Gattung Demotarbus, der er die Arten spinicrus und cubanus zuordnete. Um das Chaos zu vollenden, synonymisierte er D. spinicrus in derselben Arbeit (Franganillo, 1936) in einer Fußnote mit D. cubanus, was schon zum damaligem Zeitpunkt den Nomenklaturregeln widersprach. Zur Veranschaulichung hier noch einmal die Liste der Bezeichnungen, unter denen Mygale spinicrus während der letzten eineinhalb Jahrhunderte durch die Literatur geisterte:
 
Mygale spinicrus: Latreille, 1819 (bzw. 1818)
Mygale cubana: Walckenaer, 1837
Eurypelma spinicrus: Ausserer, 1871
Xenesthis cubana: Franganillo, 1930
Demotarbus cubanus: Franganillo, 1931
Demotarbus spinicrus: Franganillo, 1934
Citharacanthus spinicrus: Petrunkevitch, 1939
Eurypelma spinicrus: Bryant, 1940
Avicularia spinicrus: Raven, 1985 (Diese Kombination rührt von der Synonymisierung der Gattung Eurypelma mit Avicularia durch Raven her. Formal war dies zwar richtig, allerdings wurden fälschlicherweise damit neben spinicrus auch viele andere, damals noch als Eurypelma bezeichnete Arten der Theraphosinae, zu Avicularia transferiert.)
 
Da der Holotypus nicht aufzufinden war, ist das Taxon spinicrus heute nicht mehr zu deuten und wird daher zum ‚nomen dubium’ erklärt. Es besteht  zwar die Möglichkeit, daß Walckenaer Recht hatte, die Art demnach von Kuba stammt, und mit dem ihm von dort vorliegendem Material identisch war: in diesem Fall handelt es sich um eine Art der Gattung Phormictopus. Andernfalls kann wegen des fehlenden Typus nicht geklärt werden, welcher brasilianischen(!) Gattung die Art gegebenenfalls zuzuordnen wäre.